Portrait Sigrid Haas

Jeder Mensch ein Universum
Von der Vielfalt der therapeutischen Arbeit und dem Reiz der Tiefe.
Von stimmlicher Geburtshilfe, vielen Eisbergschichten und inneren Kilimanjaros.
Von Antinuschel-Paketen und „Beautycase für die Stimme“.
Von den Spielregeln der Krankenkassen und aus Lebenserfahrung geborener Dankbarkeit.
Von eigener Erdung als Resilienzschild bei Herausforderungen.
Von Süntelbuchensehnsucht und Singen am Bodensee.
Sigrid Haas arbeitet als Atem- und Stimmtherapeutin sowie als Atem-, Sprech- und Stimmlehrerin – unter anderem nach dem Konzept Schlaffhorst-Andersen. In Süddeutschland sei das leider weniger bekannt als in anderen Teilen Deutschlands. Aber die, die es kennen, seien begeistert. So komme es vor, dass Menschen gerade deshalb anfragen: „Ich möchte zu Ihnen, weil Sie nach Schlaffhorst-Andersen arbeiten.“
Sie arbeite sowohl therapeutisch als auch künstlerisch-pädagogisch – beides seit dem 1. Januar 2023 in eigener Praxis. „Das macht mir sehr viel Freude, weil ich gern mit Menschen zu tun habe, und ihnen etwas ganz Persönliches mitgeben kann. Das finde ich das Tolle an dem Beruf.“
Die therapeutische Arbeit – von der obersten Schicht des Eisbergs in die Tiefe arbeiten
Die therapeutische Arbeit unterscheide sich unter anderem dadurch, dass Ärzt:innen die Verordnung ausstellen und es mehr oder weniger lange Therapiesequenzen gäbe, die man mit den Patient:innen entwickele. „Es ist wirklich eine Entwicklung, denn jeder Mensch ist ein Universum.“
Oft sei es so, dass das Symptom, mit dem die Menschen kämen, wie eine Stimmstörung, oder ein Räusperzwang, nur die oberste Schicht vom Eisberg sei. Daran könne man etwas ändern. „Aber oft geht es auch in Richtung von Lebensführung und Wertschätzung – und da bin ich sehr dankbar, dass ich meine eigene Lebenserfahrung habe und darauf zurückgreifen kann, um die Menschen auch zu begleiten.“
Stimmliche Geburtshilfe – „Was sich dann aber ändert, betrifft das ganze Leben.“
„Für mich ist die Stimme ein ganz wertvolles Instrument, um den Menschen Selbstwirksamkeitserfahrung zu vermitteln. Damit arbeite ich. Was sich dann aber ändert, das betrifft das ganze Leben. Die Stimme ist für mich auch das erste Diagnostikmittel, denn wir bekommen ja keine Videostroboskopie-Aufnahmen von den HNO-Ärzten zugeschickt.“ So könne man über das eigene Hören zunächst wahrnehmen und zudem beobachten, wie der Mensch sitzt, sich bewegt.
„Diese Schlüssel dann an die Patienten weiterzugeben, das ist sehr effektiv.“ Für manche ist es auch der Weg, den sie nicht wollen. Sie wollen behandelt werden und die Verantwortung abgeben. Aber ich mache die Begleitung der Patienten, das sage ich auch am Anfang ganz klar: „Ich bin Ihre Begleitung, aber die Arbeit machen Sie. Ähnlich, wie eine Hebamme, die die Geburt begleitet.“
Ein großer Schwerpunkt in der Arbeit von Sigrid Haas seien auch die Atemmassagen. Da sei es ebenfalls zentral, die Balance zwischen dem Geben und Nehmen zu halten. Am Anfang sei es meist wichtig, dass die Leute loslassen könnten und behandelt würden und gleichzeitig sei dies ein Bereich, um ins Spüren zu kommen und zu merken: Es geht anders. Zum Abschluss habe sich bewährt, mit einer aktiven Übung enden, dass die Patient:innen wieder in die Eigenverantwortung kommen.
Die pädagogisch-künstlerische Arbeit: Zwischen „Antinuschel-Paket“ und „Beautycase für die Stimme“
Von Anfang an war Sigrid Haas klar, dass sie auch mit Menschen arbeiten wolle, die sich einfach für das Thema Stimme interessieren, da sie auch schon zuvor in dem Bereich tätig war. Der Unterschied liege im Tempo und im Anspruch. Die Menschen, die sie aus Eigeninitiative aufsuchten, zahlten dies als private Leistung. Sie kommen meist, weil sie unter hohem – oft beruflichem – Druck stehen, und wollen schnell Resultate sehen. Da helfe Sigrid Haas ihre Erfahrung und ihr Background: Sie habe ursprünglich Internationale BWL studiert und war in großen Unternehmen tätig: „Ich weiß, wie es da zugeht.“
Es ginge darum, den Menschen möglichst kompakt essentielles Werkzeug zu vermitteln, welches sie schnell umsetzen können. „Dann kommt es darauf an, wie tief sie gehen wollen: Ob sie schon mit kleinen Takeaways zufrieden sind, oder ob sie gemerkt haben: ‚Ich könnte jetzt auch ein Burnout vermeiden.‘ Es kommen aber auch Menschen, bei denen es lediglich um kleine Stellschrauben ginge. Deshalb habe sie auch auf ihrer Website Pakete geschnürt, wie das „Antinuschel-Paket“ oder das „Beautycase für die Stimme“, als sie gemerkt habe, dass die meisten Menschen gar nicht wissen, was überhaupt möglich sei und in welche Richtung man arbeiten könne.
Die Kenntnisse über die eigene Stimme und Atmung seien generell sehr gering. „Man kommt auf die Welt und fängt an zu atmen und wenig später zu sprechen.“ Aber die meisten Menschen beschäftigten sich eigentlich kaum mit der Atmung und der Stimme, bis sie zu dem Punkt kämen, dass etwas nicht funktioniere. „Solange wir leben, funktioniert ja alles. Dass es einen großen Unterschied gibt, zwischen dem Leben und dem Überleben, wird den meisten erst klar, wenn ein Problem da ist.“
Welch Glück hinter diesem Satz: „Ich kann wieder atmen.“
Sigrid schätze an ihrer Arbeitsweise, dass sie ihren Arbeitsrhythmus selbst bestimmen – mit den Pausen, die sie brauche und Arbeitszeiten, die ihr lägen: „Ich fange um 12 Uhr an und das Ende ist offen – das ist gut für mich.“
Noch wichtiger sei ihr allerdings, dass sie Menschen auf einer ganz besonderen und tiefen Ebene begleiten dürfe, und immer wieder versuche, für jeden den Weg zu finden, der stimme. Manchmal komme sie an ihre Grenzen. „Aber meistens finde ich den Schlüssel – und das ist sehr beglückend, wenn Menschen sagen: „Ich kann wieder atmen“, „Ich komme wieder die Treppe hoch“ oder „Ich kann wieder Bergsteigen gehen“.
Der innere Kilimanjaro
Sie habe beispielsweise eine Patientin mit einem Erschöpfungssyndrom, die sagte: „Ich habe aber mit meinem Mann und einer Gruppe vereinbart, auf den Kilimanjaro zu wandern.“ Aber so wie sie auf dem Stuhl gesessen habe, sei das zweifelhaft gewesen. „Und dann haben wir daran gearbeitet. Gestern hat sie mir ein Bild vom Kilimanjaro geschickt. Die haben natürlich etwas geändert und eine einfachere Route genommen. Aber sie hat es geschafft, weil sie gelernt hat, auf sich selbst zu achten, in ihrem Atemrhythmus zu gehen und sich nicht permanent zu überfordern. Und so etwas macht mich glücklich. Also, sie war auf dem Kilimanjaro und nicht ich. Aber, dass wir ihren inneren Kilimanjaro bestiegen haben, das ist tausendmal wichtiger, weil sie jetzt mit sich umgehen kann und wieder in ihrer Kraft steht. Das finde ich einfach genial.“
Eigene Erdung als Resilienzschild bei Herausforderungen
Generell habe sie großes Glück mit ihren Patient:innen. Für nicht ausbleibende Herausforderungen sei es ihr wichtig, sich selbst zu erden. „Ich übe täglich das Atmen, Yoga und singe viel. Das ist die eigene Übung, die mich dazu befähigt, die schweren Momente zu verarbeiten. Wenn beispielsweise Patienten gestorben sind. Das gehört auch zum Leben.“
„Oder auch nicht in die Bewertung mit dem permanenten Leistungsgedanken zu gehen, sondern sich zu sagen: ‘Ich habe mein Bestes gegeben und das ist gut genug.‘ Das musste ich auch erst lernen. Genauso wie in die Demut zu gehen und zu sagen: Da kann ich nicht weiter.“
Sie habe einen Patienten gehabt, der im Männerhaus gewohnt habe, der Alkohol- und Lebensführungsprobleme hatte. Er habe eine derartig laute Stimme gehabt, die er nicht modulieren konnte. Deshalb sei er überall angeeckt, weil die Menschen gedacht haben, er brülle sie an. „Mir war aber klar, dass die Stimmtherapie von den Prioritäten in seinem Leben eigentlich an Stelle 100 wäre und andere Therapien davor kommen müssten. Aber weil die Psychologen so eine lange Warteliste haben, habe ich gesagt: ‚Das wird nicht leicht werden, aber ich kann es probieren. Ich sage Ihnen aber auch, wenn ich sehe, dass das nicht in meiner Kompetenz liegt, oder die Prioritäten nicht richtig sind, werde ich die Therapie beenden.‘ Das habe ich dann nach sechs Einheiten auch gemacht.“
Sie habe auch mit seinem Betreuer geredet und ihm gesagt: „Es war mir fast klar, aber ich wollte auch ihm eine Chance geben und zeigen, dass er gesehen wird – mit seinem Leiden. Aber manchmal gibt es auch Grenzen und die muss man dann auch ziehen.“
Immer auf dem Weg – in die Tiefe statt in die Breite
„Mein Leben hat so viele Wendungen und Kurven genommen, dass ich weniger ein konkretes berufliches Ziel habe, sondern dass ich immer auf dem Weg bin.“ Ihr sei klar geworden, dass es ihr liege und guttue, in die Tiefe und nicht in die Breite zu gehen. Sie habe sich auf die Therapiegebiete Stimme, Atmung, Sprechen und Stottern spezialisiert. Sie vertiefe sich lieber in diesen Gebieten und habe ganz bewusst Gebiete abgegeben, die jetzt ihre Kollegin mache. „Wir ergänzen uns sehr gut.“
In die Vertiefung möchte sie weiter hineingehen: „Ich habe eine sehr interessante Ausbildung gemacht, die Logopädie und Osteopathie zusammenbringt.“ Darüber hinaus praktiziere sie schon seit Jahrzehnten Yoga. „So eine Beratung von Yoga und Atmung könnte ich mir vorstellen.“
Auch Gruppenstunden wolle sie wieder verstärkt aufnehmen. „Offenes Singen würde ich gern anbieten, ohne Anspruch. Singen ist für viele Menschen befreiend – da ist ein großer Bedarf. Oder auch im Freien singen: Meine Praxis ist ideal gelegen, zwei Minuten vom Bodensee. Da sind auch Grünflächen, auf denen ich mir vorstellen könnte, im Sommer auch draußen zu singen.“
Spielregelakzeptanz zwischen Widerwillen und Dankbarkeit
Sie könne sich größtenteils frei entfalten in ihrer Arbeit. „Natürlich gibt es so Eckdaten, wie die Krankenkassen gerade drauf sind. Das kann ich leider nicht frei bestimmen, das ist manchmal sehr mühsam.“ Gleichzeitig sei sie auch sehr dankbar, da sie aus längeren Auslandsaufenthalten wie in Spanien wisse, dass dort Stimmtherapien ausschließlich private Leistungen seien. „Das heißt, es wäre Meckern auf sehr hohem Niveau. Wir haben immer noch ein richtig gutes Gesundheitssystem. Wenn ich da jetzt drin bin, sind das die Spielregeln.“
Sing- und Süntelbuchensehnsucht
Wenn sie so auf ihre Ausbildungszeit in Bad Nenndorf zurückblicke, fehlen ihr vor allem das gemeinsame Schwingen und Singen. „Also, dass man einfach so lossingen kann und dann singt jemand die zweite Stimme oder den Kanon. Und mir fehlen die Süntelbuchen.“ Sigrid lacht. Für alle, die sie (noch) nicht kennen: Die Süntelbuchen sind eine Besonderheit der Region.
Auf die Frage, was sie sagen würde, wenn sie 30 Sekunden am Ende der Tagesthemen zur Verfügung hätte, antwortet Sigrid: „Weniger ist mehr und tiefer ist mehr. Meine Erfahrung ist auch, dass ich nur das weitergeben kann, was ich in mir selbst verankert habe und was ich mir selbst erarbeitet habe und täglich übe.“
Interview: Till Seifert
Portraitfassung: Nora Krohn